Dr. Susanne Wischermann

Über Crischa Siegels Malerei

Crischa Siegels Bilder sind abstrakt – so kann man auf den ersten Blick sagen – und hat sicherlich recht damit, denn der Künstlerin geht es offenbar nicht um die detailgetreue Wiedergabe von Gegenständen. Ebenfalls geht es ihr nicht darum, mit Hilfe von Farben und Pinseln dem Film oder der Photographie Konkurrenz zu machen. Diese beiden Medien haben ja in unserer Zeit das einstige Monopol der Malerei übernommen, die Wirklichkeit möglichst realitätsgetreu abzubilden. Und es geht ihr auch nicht darum, sich an den Gegenstand zu binden, wie die Naive Malerei es tut. Es geht ihr um etwas anderes. Und schon sind wir mitten in der Fragestellung der abstrakten Malerei.

Was bedeutet es, wenn eine Künstlerin abstrakt malt? Abstrahere aus dem Lateinischen bedeutet: „fortziehen“ oder „wegziehen“. Es bedeutet aber auch “sich losmachen“. Diese letzte Bedeutung ist der Schlüssel: Abstrahieren heißt „sich losmachen“ also „loslösen“. Und mit Loslösen auch Aussondern. Crischa Siegel sondert aus, sie filtert, sie scheidet das Detail vom Ganzen; sie unterscheidet zwischen landläufigem Gucken und künstlerischem Betrachten der Welt. Es kommt nicht von ungefähr, dass einer ihrer Lieblingssätze besagt, dass das künstlerische Sehen das Innere Sehen ist .....

Crischa Siegel sondert aus, das heißt, sie konzentriert sich bei ihren Bildern auf bestimmte Aspekte. Das kann einmal der Aspekt der Perspektive sein. Wie zum Beispiel bei ihren Landschaften. Es sind Landschaften aus einer Perspektive, wie man sie nur aus einem Hubschrauber oder von einem hohen Turm aus erleben könnte: Felder, Waldstücke, Häuser, Hügel – alles bildet auf einmal eine geometrische Form. Kleinigkeiten werden unwesentlich, unbedeutend. Ein verregneter Wald verschwimmt zu einer einheitlichen Fläche, einigt sich auf eine gemeinsame Grundfarbe; Hügel werden zu Halbkreisen....

Ein anderer Aspekt ist der der Farbe, wie zum Beispiel bei Crischa Siegels blauen Bildern. Blau ist nicht gleich Blau. Es kann Kobalt, Aquamarin, Ultramarin, dunkel und hell sein. Es kann transparent, pastos, geträufelt, getröpfelt, auf- und abgetragen, gepinselt, gekratzt, übermalt sein. Es bildet Linien, Flächen, Strukturen und Tropfen, Verästelungen, Raster, feine Netze. Unsere Sprache kann gar nicht all’ das in Worte fassen, was an Seherlebnissen geboten wird. Ein abstraktes Bild zu betrachten, heißt auch immer, zu hinterfragen, WAS man eigentlich sieht.

Crischa Siegels Bilder stehen in einer langen Tradition – einer Tradition, die Ende des 19. Jahrhunderts beginnt. Es ist eine Zeit, in der man einige Erkenntnisse über das menschliche Sehen gewinnt: Man stellt auf einmal fest, dass das menschliche Sehen keine objektive,  allgemeingültige Sache ist – sonst könnte jeder wie eine Kamera auf die Welt schauen und bei jedem würde das gleiche Bild entstehen. Man findet heraus, dass die Farben, die man sieht, letztendlich eine Frage des menschlichen Gehirns sind, dass einzelne Details erst im Kopf wieder zusammen gesetzt werden. Das Sehen ist nicht nur eine Frage der Augen, sondern auch des Denkvermögens.

In dieser Zeit begibt sich der französische Maler Paul Cézanne an die selbst gestellte Aufgabe, ein objektives Bild zu malen. Er setzt sich das Ziel, ein Werk zu schaffen, dass so losgelöst es selbst ist, dass jeder, der darauf schaut, das Gleiche sieht. Cézanne ist zwar mit dem Wunsch nach dem objektiven Bild gescheitert – was aber blieb, ist seine radikale Loslösung vom Gegenstand – nämlich der Abstraktion. Er malte Äpfel nicht so, dass man beim Betrachten den Wunsch bekam hinein zu beißen, sondern er malte sie als runde Formen z. B. in grün und rot.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später ist Paul Cézanne immer noch aktuell. Allerdings hat man sein Scheitern in Sachen ‚objektives Bild’ erkannt, und konzentriert sich nun auf andere Facetten der Malerei – Facetten, die ohne Cézanne aber gar nicht erst möglich wären.

Der abstrakte Expressionismus nach dem 2. Weltkrieg ist eine dieser Facetten. Eine Variation dessen, wozu Cézanne den Boden bereitet hat. Man nennt ihn auch „Informel“ – dies meint: Ohne Form, ohne Gegenstand. Einer der wichtigsten Vertreter des „Deutschen Informel“ ist Emil Schumacher. Schumacher machte Landschaften. Ich meine bewusst „machte“, weil es ein sehr intensives Arbeiten mit dem Material war. Sand, Split, Steine – und vor allem Farbe. Farbe bis zur dreidimensionalen Stofflichkeit.

Crischa Siegels Bilder sind eine Quintessenz aus den Werken dieser beiden bedeutenden Künstler. Sie verknüpft in ihren Bildern diese beiden roten Fäden der Kunstgeschichte: Das Filtern von Landschaft durch das künstlerische Auge bis hin zur abstrakten geometrischen Form; das Untersuchen der Stofflichkeit von Farbe, und in ihren Still-Leben klingt ein Nachleben Cézannes objektiven Bildes an.

Dr. Susanne Wischermann
Kunsthistorikerin, Bergisch-Gladbach
Juli 2000, bei der Vernissage bei Uwe Reese Konzeptmanagement

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Seite zuletzt aktualisiert am 9.10.02